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Dem Gericht der Europäischen Union wird die Zuständigkeit für Vorabentscheidungen in sechs besonderen Sachgebieten übertragen

Die Umsetzung dieser teilweisen Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungen vom Gerichtshof auf das Gericht schließt sich an an die Reform des Gerichtssystems der Europäischen Union und wird Vorabentscheidungsfragen betreffen, die ab dem 1. Oktober 2024 vorgelegt werden Eine bedeutende Änderung der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, die heute im Amtsblatt der Europäischen Union[1] veröffentlicht wird, wird am 1. September in Kraft treten. Diese Änderung sieht u. a. eine teilweise Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungen vom Gerichtshof auf das Gericht vor, die ab dem 1. Oktober 2024 gelten wird. Diese Übertragung betrifft sechs besondere Sachgebiete: das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, Verbrauchsteuern, den Zollkodex, die zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur, Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug- und Fahrgäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Verspätung oder bei Annullierung von Transportleistungen sowie das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten. Die Änderung der Satzung sieht außerdem eine Ausweitung des Mechanismus der vorherigen Zulassung von Rechtsmitteln ab dem 1. September 2024 vor. Diese Reform zielt darauf ab, die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs im Bereich der Vorabentscheidungen zu verringern und es ihm zu ermöglichen, seine Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung der Verträge zu gewährleisten, weiterhin innerhalb angemessener Fristen zu erfüllen. Im Jahr 2001 hatten die Verfasser des Vertrags von Nizza die Möglichkeit einer Beteiligung des Gerichts an der Behandlung bestimmter Vorabentscheidungsersuchen vorgesehen, ohne dass die Satzung seither zu diesem Zweck angepasst worden wäre.

In den vergangenen fünf Jahren war jedoch ein erheblicher struktureller Anstieg der Zahl der Rechtsstreitigkeiten zu verzeichnen.[2] Diese Entwicklung ging einher mit einer Zunahme der Komplexität und Sensibilität der Rechtssachen, die u. a. verfassungsrechtliche Fragen und Fragen im Zusammenhang mit den Grundrechten betrafen. Die Reform wird es dem Gerichtshof ermöglichen, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren, die Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren und zu stärken. Das Gericht wiederum ist in der Lage, diese zusätzliche Arbeitslast aufzunehmen und wird die ihm zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen so behandeln, dass den nationalen Gerichten und den Beteiligten die gleichen Garantien geboten werden, wie sie der Gerichtshof bietet.

Die Reform umfasst im Wesentlichen drei Teile, deren Grundzüge im Folgenden dargestellt werden.

Teilweise Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungen auf das Gericht

Der erste Teil der Reform betrifft die Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungen vom Gerichtshof auf das Gericht, das mit zwei Richtern pro Mitgliedstaat besetzt ist. Aus Gründen der Rechtssicherheit betrifft die Übertragung nur sechs klar abgegrenzte Sachgebiete, die sich hinreichend von anderen Sachgebieten trennen lassen und zu denen es bereits eine umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt. Dem Gericht wird so die Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen übertragen, die ausschließlich in eines oder mehrere der folgenden sechs besonderen Sachgebiete fallen:

1. gemeinsames Mehrwertsteuersystem;

2. Verbrauchsteuern;

3. Zollkodex;

4. zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur;

5. Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug- und Fahrgäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Verspätung oder bei Annullierung von Transportleistungen;

6. System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten.

Diese Sachgebiete werfen selten Grundsatzfragen auf, die die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berühren könnten. Es gibt zu ihnen bereits eine umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofs, was es dem Gericht ermöglichen sollte, sich auf früher ergangene Urteile zu stützen. Diese Bereiche machen etwa 20 % der dem Gerichtshof vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen aus, was eine ausreichend große Zahl von Rechtssachen darstellt, um eine tatsächliche Verringerung der Arbeitsbelastung des Gerichtshofs zu bewirken. Der Gerichtshof wird damit in die Lage versetzt, sich stärker auf seine Aufgaben als Verfassungs- und Höchstgericht der Union zu konzentrieren.

Der Gerichtshof wird weiterhin zuständig sein für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen, die sich zwar den vorgenannten besonderen Sachgebieten zuordnen lassen, aber auch andere Bereiche betreffen. Er wird außerdem weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen zuständig sein, die zwar zu einem oder mehreren der besonderen Sachgebiete gehören, aber eigenständige Fragen der Auslegung (1) des Primärrechts einschließlich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, (2) des Völkerrechts oder (3) der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts aufwerfen. Darüber hinaus wird das Gericht auch Rechtssachen, die zwar in seine Zuständigkeit fallen, aber eine Grundsatzentscheidung erfordern, die die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berühren könnte, zur Entscheidung an den Gerichtshof verweisen können.

Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Beschleunigung sind sämtliche Vorabentscheidungsersuchen beim Gerichtshof einzureichen, damit dieser nach den in seiner Verfahrensordnung festgelegten Modalitäten prüft, ob das Ersuchen ausschließlich in eines oder mehrere der festgelegten besonderen Sachgebiete fällt und ob es folglich dem Gericht zuzuweisen ist. Im Interesse der Rechtssicherheit und der Transparenz werden der Gerichtshof bzw. das Gericht in der Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen kurz begründen, weshalb er bzw. es für die Entscheidung über eine Vorabentscheidungsfrage zuständig ist.

Entwicklungen, die für sämtliche Vorabentscheidungssachen gelten

Der zweite Teil der Reform umfasst zwei Entwicklungen, die in der Verordnung zur Änderung der Satzung vorgesehen sind und die für alle Vorabentscheidungsersuchen gelten werden, unabhängig vom jeweiligen Sachgebiet und unabhängig von der Frage ihrer etwaigen Weiterleitung an das Gericht.

Erstens werden, wie dies bereits für sämtliche Mitgliedstaaten und für die Kommission der Fall ist, künftig sämtliche Vorabentscheidungsersuchen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Europäischen Zentralbank mitgeteilt, damit diese beurteilen können, ob sie ein besonderes Interesse an den aufgeworfenen Fragen haben und dementsprechend von ihrem Recht zur Einreichung von Schriftsätzen oder schriftlichen Erklärungen Gebrauch machen wollen.

Zweitens ist zur Stärkung der Transparenz und der Offenheit des Vorabentscheidungsverfahrens und um ein besseres Verständnis der vom Gerichtshof und vom Gericht erlassenen Entscheidungen zu ermöglichen, vorgesehen, dass in sämtlichen Vorabentscheidungssachen die von einem in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten eingereichten Schriftsätze oder schriftlichen Erklärungen innerhalb einer angemessenen Frist nach Abschluss des Verfahrens auf der Internetseite des Gerichtshofs veröffentlicht werden, es sei denn, der Beteiligte widerspricht der Veröffentlichung seines Schriftsatzes oder seiner Erklärungen.

Ausweitung des Mechanismus der vorherigen Zulassung von Rechtsmitteln

Der dritte Teil der Reform bezweckt, die Effizienz des Verfahrens der Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts angesichts der hohen Zahl der beim Gerichtshof eingelegten Rechtsmittel zu wahren. Damit sich der Gerichtshof auf die Rechtsmittel konzentrieren kann, die bedeutsame Rechtsfragen aufwerfen, wird der Mechanismus der vorherigen Zulassung von Rechtsmitteln[3] auf weitere vom Gericht erlassene Entscheidungen ausgeweitet.

Der Mechanismus der vorherigen Zulassung durch den Gerichtshof betrifft die Rechtsmittel in Rechtssachen, die bereits zweifach geprüft worden sind, zunächst durch eine unabhängige Beschwerdekammer einer Einrichtung oder sonstigen Stelle der Union und danach durch das Gericht. Derzeit betrifft dieser Mechanismus die in Art. 58a der Satzung genannten, von vier Beschwerdekammern (siehe unten, Nrn. 1 bis 4) erlassenen und danach vor dem Gericht angefochtenen Entscheidungen. Mit der Änderung der Satzung, die am 1. September in Kraft treten wird, kommen zu den bisherigen vier unabhängigen Beschwerdekammern sechs weitere hinzu, so dass die Gesamtzahl auf zehn steigt. Es handelt sich um die Beschwerdekammern

1. des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) (Alicante, Spanien);

2. des Gemeinschaftlichen Sortenamtes (CPVO) (Angers, Frankreich);

3. der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) (Helsinki, Finnland);

4. der Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit (EASA) (Köln, Deutschland), zu denen hinzukommen die Beschwerdekammern

5. der Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) (Ljubljana, Slowenien);

6. des Einheitlichen Abwicklungsausschusses (SRB) (Brüssel, Belgien);

7. der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA) (Paris, Frankreich);

8. der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) (Paris, Frankreich);

9. der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) (Frankfurt am Main, Deutschland); 10. der Eisenbahnagentur der Europäischen Union (ERA) (Valenciennes, Frankreich).

Des Weiteren wird der Mechanismus der vorherigen Zulassung auch für Rechtsmittel gegen die Entscheidungen des Gerichts gelten, die eine Entscheidung einer unabhängigen Beschwerdekammer betreffen, die nach dem 1. Mai 2019 innerhalb einer Einrichtung oder sonstigen Stelle der Union eingerichtet wurde und die anzurufen ist, bevor eine Klage vor dem Gericht eingereicht werden kann.

Schließlich wird dieser Mechanismus auch auf Rechtsstreitigkeiten über die Erfüllung von Verträgen ausgeweitet, die eine Schiedsklausel enthalten. Bei solchen Rechtsstreitigkeiten muss das Gericht nämlich zumeist nur das in der Schiedsklausel genannte nationale Recht in der Sache auf den Rechtsstreit anwenden.

Die Ausweitung des Mechanismus der vorherigen Zulassung von Rechtsmitteln wird ab dem 1. September 2024 gelten.

PM Nr. 125/24 v. 12.8.2024


[1] Verordnung (EU, Euratom) 2024/2019 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. April 2024 zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union.

[2] Siehe PM Nr. 59/24.

[3] Zur Einführung des Mechanismus der vorherigen Zulassung von Rechtsmitteln im Jahr 2019 siehe PM Nr. 53/19.