Der Sachverständigenrat Wirtschaft erwartet für 2023 einen Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts um 0,4 Prozent und für 2024 ein Wachstum von 0,7 Prozent. Die Inflationsrate wird voraussichtlich in diesem Jahr 6,1 Prozent betragen, im kommenden Jahr 2,6 Prozent.
Deutliche Wachstumshemmnisse für die kommenden Jahre sind die demografische Alterung, das geringe Produktivitätswachstum, der veraltete Kapitalstock sowie die geringe Anzahl junger und innovativer Unternehmen.
Um die Wachstumschancen zu erhöhen, sind mehr Innovationen und Investitionen notwendig. Dies erfordert liquidere Kapitalmärkte, eine stärkere Aktienkultur und mehr Wagniskapital.
Erwerbsmöglichkeiten und -anreize sollten verbessert werden. Sie stützen das Arbeitsvolumen und senken die Armutsgefährdung.
Die demografische Alterung macht langfristig orientierte Rentenreformen nötig, die mehrere Reformoptionen kombinieren, um die Lasten der Alterung fairer zwischen und innerhalb der Generationen zu verteilen.
Die Energiekrise und gesunkene Realeinkommen belasten immer noch die kurzfristige wirtschaftliche Entwicklung. Mittelfristig bremsen aber vor allem das sinkende Arbeitsvolumen, der veraltete Kapitalstock und fehlende innovative Unternehmen das Wachstum in Deutschland. Die mittelfristigen Wachstumsaussichten sind dadurch auf einem historischen Tiefstand. „Um die Wachstumsschwäche zu überwinden, muss Deutschland in seine Zukunft investieren. Dafür sind stärkere Produktivitätsfortschritte durch Innovationen, Investitionen und mehr Dynamik bei Unternehmensgründungen notwendig. Diese können das sinkende Arbeitsvolumen teilweise kompensieren. Gleichzeitig sind Reformen im Steuer-Transfer-System und im Rentensystem dringend erforderlich“, sagt Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrates Wirtschaft. Wie dies konkret gelingen kann, diskutiert der Sachverständigenrat im Jahresgutachten.
Die konjunkturelle Erholung in Deutschland verzögert sich. Die Konjunktur wird noch immer von der Energiekrise und den durch die hohe Inflation gesunkenen Realeinkommen gebremst. Um die Inflation zu bekämpfen, haben die Zentralbanken weltweit ihre Geldpolitik gestrafft. Die Straffung und die schleppende Entwicklung in China tragen zum eingetrübten außenwirtschaftlichen Umfeld bei. Das höhere Zinsniveau dämpft zudem Investitionen und Bautätigkeit im Inland. Der Sachverständigenrat erwartet daher, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2023 um 0,4 Prozent schrumpft. Im Jahr 2024 ist aufgrund steigender Realeinkommen mit einer Ausweitung des privaten Konsums zu rechnen. Dies dürfte zu einer verhaltenen konjunkturellen Erholung führen und das BIP um 0,7 Prozent erhöhen.
Die Inflationsrate hat sich seit Jahresbeginn 2023 etwa halbiert. Wegen eines starken Preisdrucks zum Jahresanfang 2023 dürften die Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt aber noch um 6,1 Prozent steigen. Während die Preissteigerungen bei Energie und Nahrungsmitteln deutlich abnehmen, dürfte die Kerninflation auch im kommenden Jahr erhöht bleiben. Dies liegt unter anderem an den stark gestiegenen Lohnstückkosten, die zu anhaltenden Preissteigerungen bei Dienstleistungen führen dürften. Für das Jahr 2024 prognostiziert der Sachverständigenrat daher eine Inflationsrate von 2,6 Prozent.
Die deutsche Volkswirtschaft weist seit Beginn der Corona-Pandemie das geringste BIP-Wachstum im Euro-Raum auf. „Viel bedeutsamer als die konjunkturelle Schwäche sind die mittelfristigen Wachstumshemmnisse für das Produktionspotenzial“, sagt Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft. Gemäß der Mittelfristprojektion des Sachverständigenrates wird das Produktionspotenzial bei Fortschreibung bestehender Dynamiken bis zum Jahr 2028 jährlich nur um durchschnittlich 0,4 Prozent wachsen. Dies wäre ein historischer Tiefstand, der insbesondere auf das sinkende Arbeitsvolumen zurückzuführen ist. Um das Potenzialwachstum wieder spürbar zu erhöhen, müssten die Investitionstätigkeit gesteigert und der Rückgang des Arbeitsvolumens verlangsamt werden. „Stärkere Erwerbsanreize, eine ambitionierte Zuwanderungspolitik, verbesserte Schulbildung und eine Stärkung der Universitäten sind entscheidend. Zugleich gilt es, den Strukturwandel zuzulassen und Investitionen zu mobilisieren, die die Produktivität steigern“, erläutert Veronika Grimm. Investitionen in Kapitalgüter wie Maschinen, Roboter und Informationstechnologie können die gesamtwirtschaftliche Produktivität erhöhen, vor allem wenn neue Querschnittstechnologien wie Künstliche Intelligenz angewendet werden. Gleichzeitig können solche Investitionen die absehbare Verknappung des Arbeitsvolumens kompensieren.
Gut entwickelte und liquide Kapitalmärkte sind zentral, um die Wachstumsschwäche zu überwinden und die digitale und grüne Transformation zu finanzieren. Sie lenken Kapital gezielt zu hochproduktiven Unternehmen und Wirtschaftsbereichen. Kapitalmarktbasierte Finanzierung stärkt Investitionen in neue, riskantere Technologien sowie in Forschung und Entwicklung. Start-ups fördern Innovationen und tragen zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum bei. Allerdings besteht in Deutschland und anderen europäischen Ländern erheblicher Nachholbedarf bei der Finanzierung von jungen Unternehmen in der Wachstumsphase.
„Große institutionelle Investoren in Europa sollten mehr Eigen- und Wagniskapital bereitstellen und so zur Unternehmensfinanzierung beitragen. Dazu sollten institutionelle Rahmenbedingungen wie quantitative Anlagegrenzen und Exit-Optionen für Wagniskapitalgeber in Europa verbessert werden“, fordert Ulrike Malmendier, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft. Zusätzliche kapitalmarktbasierte Finanzierung könnte ein öffentlich verwalteter Pensionsfonds, als Baustein einer kapitalgedeckten Altersvorsorge, zur Verfügung stellen. Durch diesen Fonds könnten mehr Haushalte am Kapitalmarkt mit attraktiven Anlagemöglichkeiten teilnehmen und somit die Aktienkultur stärken. „Um die großen Renditevorteile sowie das geringe Risiko breit gestreuter Anlagefonds allen Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen, sollten schon Kinder und Jugendliche mit einem Startkapital ausgestattet werden, das in einen solchen Fonds investiert wird“, ergänzt Ulrike Malmendier.
Während die realen Nettoeinkommen in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Durchschnitt um rund 25 Prozent gestiegen sind, stagnierten die Einkommen der unteren Einkommensgruppen nahezu. „Die Armutsgefährdungsquote ist angestiegen. Besonders stark betroffen sind Alleinerziehende, Arbeitslose, Kinder und Jugendliche sowie Personen, die im Ausland geboren wurden“, sagt Achim Truger, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft. „Eine Reform der Grundsicherung kann die Armutsgefährdung senken und Erwerbsanreize stärken, ohne die öffentlichen Haushalte zu belasten.“ Hierzu sollten die Leistungen in der Grundsicherung gebündelt werden, mit einer geringeren Transferentzugsrate als im derzeitigen System. Eine Reform des Ehegattensplittings kann die Erwerbsanreize von verheirateten Zweitverdienenden, zumeist Frauen, stärken. Eine gut ausgebaute Kinderbetreuung ist zentral, um die Erwerbsmöglichkeiten von Eltern zu verbessern.
In den kommenden 15 Jahren beschleunigt sich die demografische Alterung in Deutschland deutlich. Damit steigt der Finanzierungsbedarf in der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) beträchtlich. „Keine einzelne Maßnahme reicht aus, um die Finanzierungsprobleme der GRV nachhaltig zu lösen. Eine Kombination verschiedener Reformoptionen ist unverzichtbar“, erklärt Martin Werding, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft. „Zugleich können über eine solche Kombination die Lasten der alternden Gesellschaft zwischen Jung und Alt sowie innerhalb der Generationen fairer geteilt werden.“ Kernelemente der Reform sollten die Kopplung des gesetzlichen Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung bei Renteneintritt, kombiniert mit einer neuen Form der ergänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorge sein. Weil diese Reformelemente erst langfristig wirken, bedarf es zusätzlicher Schritte, die die Finanzierung der GRV kurz- bis mittelfristig stabilisieren. Mögliche Maßnahmen sind eine Verstärkung des Nachhaltigkeitsfaktors oder die Einführung einer Inflationsanpassung von Bestandsrenten, ergänzt mit einer nach Einkommen gestaffelten („progressiven“) Rentenberechnung. Reformen der Beamtenversorgung sollten sicherstellen, dass die Pensionsausgaben ebenfalls gedämpft und Reformen der GRV wirkungsgleich übertragen werden.
Die deutsche Forschungsdateninfrastruktur ist im internationalen Vergleich rückständig. Datenbasierte Analysen, die eine evidenzbasierte Politikberatung ermöglichen, sind eine essenzielle Entscheidungsgrundlage für die Politik und die öffentliche Verwaltung. Um die Forschungsdateninfrastruktur zu verbessern und die empirische Forschung zu stärken, sind eine Anpassung der Statistikgesetzgebung, ein Forschungsdatengesetz, das der Forschung ein hohes Gewicht bei der Güterabwägung mit dem Datenschutz einräumt, und eine Verbesserung der Ressourcen der amtlichen Statistik notwendig.