Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-250/21 | O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O:
Nach Ansicht des Gerichtshofs fällt die Gewährung einer Finanzierung an den Originator im Rahmen eines Unterbeteiligungsvertrags unter den Begriff der Kreditgewährung im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie
Der O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O (im Folgenden: O-Investmentfonds) plante den Abschluss von Unterbeteiligungsverträgen mit Banken oder Investmentfonds und stellte beim polnischen Minister für Finanzen einen Antrag auf Erteilung eines Steuervorbescheids, um zu klären, ob die Leistungen, die er als Unterbeteiligter zu erbringen hatte, von der Mehrwertsteuer befreit sein könnten.
Im Rahmen des in Rede stehenden Vertrags verpflichten sich der Unterbeteiligte und der Originator gegenseitig: der Unterbeteiligte, dem Originator eine Finanzierung zu gewähren, und der Originator, dem Unterbeteiligten die Einnahmen aus den Forderungen zu überweisen, die in diesem Vertrag bezeichnet sind, wobei er die Schuldtitel in seinem Vermögen behält. Der Originator erhält eine Dienstleistung gegen ein Entgelt, das der Differenz zwischen dem Prognosewert der Einnahmen aus den Forderungen und der Höhe der vom Unterbeteiligten ausgezahlten Finanzierung entspricht.
Da der O-Investmentfonds die Ansicht des Ministers für Finanzen nicht teilte, wonach die Umsätze des Unterbeteiligten dem allgemeinen Mehrwertsteuersatz von 23 % unterliegen müssten, erhob er Klage gegen den genannten Steuervorbescheid. Im Rahmen dieses Rechtsstreits möchte der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie1 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Befreiung für Umsätze, die die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten betreffen, auf den im Ausgangsverfahren beschriebenen Unterbeteiligungsvertrag Anwendung findet.
Mit seinem heutigen Urteil bejaht der Gerichtshof diese Frage.
Als Erstes bestätigt der Gerichtshof, dass die von einem Unterbeteiligten erbrachten Dienstleistungen in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen, da sie gegen Entgelt erbracht werden. Insoweit betont der Gerichtshof, dass diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet. Die Form der dem Unterbeteiligten gezahlten Vergütung ist für die Frage, ob seine Leistung entgeltlich ist oder nicht, unerheblich.
Als Zweites prüft der Gerichtshof, ob die Leistungen des Unterbeteiligten unter den Begriff der „Gewährung von Krediten“ im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen, der der einzige auf das Ausgangsverfahren anwendbare Fall der Befreiung ist.
Unter Berufung auf seine frühere Rechtsprechung, wonach die „Gewährung von Krediten“ u. a. in der Überlassung von Kapital gegen Entgelt besteht, wobei das Kapital nicht zwangsläufig von Bank- oder Finanzinstituten überlassen und das Entgelt nicht unbedingt in Form von Zinsen gezahlt werden muss, bestätigt der Gerichtshof, dass die Dienstleistung, die der Unterbeteiligte dem Originator im Rahmen des zwischen ihnen geschlossenen Vertrags erbringt, sich in einer einzigen Leistung erschöpft, die im Wesentlichen in der Auszahlung von Kapital gegen Entgelt besteht.
Ferner weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Unterbeteiligte das jedem Kreditgeschäft inhärente Kreditrisiko trägt. Dabei ist es unerheblich, ob sich dieses Risiko aus dem Zahlungsausfall der Schuldner der Forderungen, aus denen die Einnahmen auf ihn übertragen werden, oder aus der Zahlungsunfähigkeit seines unmittelbaren Vertragspartners ergibt. Darüber hinaus ist der Gerichtshof u. a. der Auffassung, dass weder das Fehlen von Garantien zugunsten des Unterbeteiligten, noch die Tatsache, dass der Unterbeteiligte im Fall eines Ausfalls der Schuldner der Forderungen, aus denen die Einnahmen auf den Unterbeteiligten übertragen werden, den Originator nicht unmittelbar in Regress nehmen kann, noch der Umstand, dass die Schuldtitel im Vermögen des Originators verbleiben, Auswirkungen auf den Wesensgehalt eines Unterbeteiligungsumsatzes und folglich auf die Einstufung des in Rede stehenden Vertrags als Kreditgewährung haben.
1 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
(Gerichtshof der Europäischen Union, PM Nr. 165/22 v. 6.10.2022)