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Steuerrecht
02.02.2023
Steuerrecht
FG Münster: Haftung aufgrund Rechtsscheins des Handelsregisters

FG Münster, Urteil vom 19.12.2022 – 4 K 1158/20 L

ECLI:DE:FGMS:2022:1219.4K1158.20L.00

Volltext BB-Online BBL2023-278-2

 

Sachverhalt

Streitig ist die Haftungsinanspruchnahme des Klägers u.a. wegen Umsatzsteuerrückständen einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH).

Der Kläger war seit dem 31.01.2014 Geschäftsführer u.a. der J1 GmbH (im Folgenden: GmbH; Handelsregister HRB XXX des Amtsgerichts B-Stadt, Eintragung vom xx.xx.2014), einer …… in N-Stadt. Allein-Gesellschafter der GmbH war seit dem Jahr 2014 Herr K. T.-M.. Auf die – für die Haftungsinanspruchnahme relevanten – die GmbH betreffenden Umsatzsteuer(vorauszahlungs)bescheide wird Bezug genommen (Bl. 168 ff. der Gerichtsakte). Der Kläger war darüber hinaus zeitweise auch Geschäftsführer der J2 GmbH, deren Steuerrückstände wegen er ebenfalls in Haftung genommen war (Verfahren zum Aktenzeichen 4 K 1241/20).

Weil der Kläger die finanziellen Schwierigkeiten der GmbH bewusst verschwiegen hatte, erging ihm gegenüber unter dem Aktenzeichen X Cs xxx Js x/x (xx/xx) des Amtsgerichts N-Stadt am xx.10.2016 ein Strafbefehl wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung nach § 15a Abs. 4 der Insolvenzordnung (InsO). Der Strafbefehl wurde – ausweislich des Rechtskraftvermerks (Bl. 413 der Gerichtsakte) – am 05.11.2016 rechtskräftig. Ferner verurteilte ihn das Amtsgericht N-Stadt im Verfahren X Cs-yyy Js x/y-yy/y am 22.02.2018 wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung nach § 15a Abs. 4 InsO (Rechtskraft am 22.02.2018), nachdem der Kläger den Einspruch gegen den zuvor ergangenen Strafbefehl vom 07.07.2017 auf die Rechtsfolgen beschränkt hatte (Bl. 417 f. der Gerichtsakte).

Zum 31.10.2018 wurde das Gewerbe der GmbH abgemeldet. Der Gewerbebetrieb wurde endgültig eingestellt.

Nachdem ein erster, durch den Kläger gestellter Insolvenzantrag für die GmbH vom 23.11.2018 mangels Glaubhaftmachung der Zahlungsunfähigkeit als unzulässig abgelehnt worden war, stellte der Kläger unter dem 15.02.2019 einen erneuten Eröffnungsantrag. Das Amtsgericht B-Stadt leitete daraufhin über das Vermögen der GmbH das Insolvenzeröffnungsverfahren ein (Aktenzeichen Y IN x/19) und gab ein Insolvenzgutachten in Auftrag; ein vorläufiger Insolvenzverwalter wurde nicht bestellt. Daneben hatte auch die Deutsche Rentenversicherung X einen Insolvenzantrag gestellt (Amtsgerichts B-Stadt Y IN y/19).

Unter dem 06.03.2019 erließ das Amtsgericht N-Stadt im Verfahren X Cs-xxx Js x/18-x/19 einen weiteren Strafbefehl gegenüber dem Kläger wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung (Bl. 247 der Gerichtsakte). Das Verfahren X Cs-xxx Js x/18-x/19 wurde letztlich nach § 154 Abs. 2 der Strafprozessordnung eingestellt (Bl. 138 der Gerichtsakte).

Der Beklagte hörte den Kläger aufgrund hausinterner Mitteilung über die erfolglose Einziehung steuerlicher Rückstände bei der GmbH zu einer Haftung für die mangels Erklärungsabgaben geschätzte Umsatzsteuer 2017 und die Vorauszahlungen für das dritte und vierte Quartal 2018 an. Die Umsatzsteuer-Anmeldungen für Februar 2018 und März 2018 sowie das zweite Quartal 2018 seien verspätet eingereicht worden. Es seien kraft Gesetzes Säumniszuschläge angefallen und Verspätungszuschläge festgesetzt worden.

Eine Antwort des Klägers hierauf erfolgte nicht.

Zwischenzeitlich führte der Beklagte bei der GmbH eine Betriebsprüfung durch (vgl. Prüfungsbericht vom 22.05.2019). Der Prüfer kalkulierte ausgehend von einer formell nicht ordnungsgemäßen Buchführung im Ergebnis (Mehr-)Einnahmen für das Jahr 2017 in Höhe von xxxx € (netto); was zu einer (Mehr-)Umsatzsteuer in Höhe von yyyy € führte. Ausweislich der BP-Handakte erfuhr der Prüfer im Rahmen der Prüfung aufgrund eines am 09.01.2019 geführten Telefonats mit der Stadt N-Stadt, dass der Kläger der Stadt gegenüber niemals selbst in Erscheinung getreten sei, sondern Ansprechpartner aufseiten der GmbH immer „Herr T.“ gewesen sei. Die Betriebsprüfung übersandte u.a. diese Information an die Straf- und Bußgeldsachenstelle des Finanzamts für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung im Finanzamt J-Stadt (Schreiben vom 10.01.2019).

Der Beklagte erließ – nach Aktenlage ohne positive Kenntnis von den strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers – unter dem 12.06.2019 einen Haftungsbescheid gegenüber dem Kläger wegen Rückständen der GmbH über insgesamt xyxy € aus Umsatzsteuerschulden nebst Säumnis- und Verspätungszuschlägen. Zur Erläuterung der Herkunft der Rückstände führte der Beklagte aus, dass die rückständigen Umsatzsteuern für das Jahr 2017 (Bescheid vom 30.08.2018) und die Zeiträume 3. und 4. Quartal 2018 mangels Abgabe von Erklärungen geschätzt worden seien. Die Anmeldungen für die Zeiträume Dezember 2017 und Januar, Februar und März 2018 sowie das zweite Quartal 2018 seien verspätet erfolgt. Ausweislich des beigefügten Kontoauszuges floss darüber hinaus ein Betrag in Höhe von xcx € in den Gesamthaftungsbetrag ein, der in der Bescheidbegründung keine Erwähnung findet.

Für die Erfüllung der Erklärungspflicht nach zeitlicher Maßgabe von § 18 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) trage der Kläger die Verantwortung, weil er als Geschäftsführer für die Abgabe der Steuererklärungen zuständig gewesen sei. Gleiches gelte für die Pflicht zur Entrichtung der Steuerbeträge (§ 34 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung [AO]). Der Haftungszeitraum beginne am 15.02.2018 (Fälligkeit der Umsatzsteuer für Dezember und ende am 27.05.2019 (Fälligkeit Umsatzsteuer 1. Quartal 2019).

Es sei mangels Mitwirkung des Klägers bei der Ermittlung der Haftungsquote davon auszugehen, dass hinreichende finanzielle Mittel vorhanden gewesen seien, um die offenen Forderungen zu begleichen. Dies gelte umso mehr, als ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens bislang nicht gestellt worden sei. Eine Halbierung der Säumniszuschläge komme angesichts dessen nicht in Betracht.

Die Haftungsinanspruchnahme sei auch ermessensgerecht, zumal der Kläger zumindest grob fahrlässig gehandelt habe. Die Inanspruchnahme der Steuerschuldnerin sei erfolglos verlaufen. Der Kläger sei der einzige in Betracht kommende Haftungsschuldner. Ggf. noch in Haftung zu nehmende Personen wären Gesamtschuldner.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung der Haftung für die steuerlichen Nebenleistungen wird auf den Bescheid und den dem Bescheid beigefügten „Kontoauszug“ Bezug genommen.

Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein und verwies darauf, dass die GmbH den Betrieb bereits Anfang September 2018 eingestellt habe und seitdem ohne Umsätze sei. Er mache zudem vor allem für die Restforderung eine Haftungsquote geltend. Näheres werde der Steuerberater mitteilen.

Das Büro des Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters X. meldete sich unter dem 05.08.2019 bezugnehmend auf den Haftungsbescheid und teilte mit, der Geschäftsführer seiner früheren Mandantin, der GmbH, habe ihn gebeten, dem Beklagten ein Schreiben an den „Insolvenzverwalter“ (Kanzlei C.) weiterzuleiten. Aus diesem ergebe sich, dass der Kläger als Geschäftsführer den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 22.11.2018 und erneut am 08.02.2019 gestellt habe; hierzu habe er am 08.02.2019 eine eidesstattliche Versicherung abgegeben.

Anschließend an die Betriebsprüfung erließ der Beklagte einen geänderten, an den Kläger als Empfangsbevollmächtigten der GmbH adressierten Umsatzsteuerbescheid für 2017 vom 13.08.2019, in dem der Nachprüfungsvorbehalt aufgehoben wurde. Der Bescheid wurde nicht angefochten.

Der Kläger verwies in Ansehung seiner Haftungsinanspruchnahme gegenüber dem Beklagten darauf, dass der Einspruch sich insbesondere gegen die vollumfänglich Haftung (ohne Berücksichtigung einer Haftungsquote) richte. Er gab zunächst an, dass eine Quotenberechnung durch den Steuerberater erstellt werde und führte später aus, dass sich die Unterlagen der GmbH beim Betriebsprüfer im Finanzamt J-Stadt sowie beim „Insolvenzverwalter“ befänden und sie von dort über den Steuerberater X. mehrfach erfolglos angefordert worden seien. Der Kläger betonte wiederholt, dass der Geschäftsbetriebs im September 2018 eingestellt worden sei und danach keine Umsätze mehr getätigt worden seien und auch nicht geschätzt werden könnten. Zur korrekten Berechnung der Haftungsquote werde der korrekte, zum Zeitpunkt der Betriebsaufgabe rückständige Steuerbetrag benötigt.

Der Beklagte teilte dem Kläger mit, dass nur Unterlagen für die Jahre 2015 bis 2017 vorlägen, die für die Quotenberechnung nicht herangezogen werden könnten. Es werde versucht, vom „Insolvenzverwalter“ weitere Erkenntnisse einzuholen. Hinsichtlich der Umsatzsteuerpflicht könne unbeschadet der Betriebseinstellung von weiteren Umsätzen ausgegangen werden (z.B. Veräußerung von Anlagevermögen, Übernahmen in das Privatvermögen). Nach den Erkenntnissen der Betriebsprüfung sei beabsichtigt, den Haftungsbetrag betreffend die Umsatzsteuer 2017 aufgrund des geänderten Bescheides vom 13.08.2019 zu erhöhen (§ 367 Abs. 2 AO).

Ein amtliches Schreiben an die Kanzlei C. blieb von dort ohne Antwort.

Der Beklagte hielt sodann in der abschlägigen Einspruchsentscheidung vom 20.03.2020 (zur Steuernummer 328/5877/2391 Rb-Nr. 1 RBBZ 5) – nach Aktenlage weiterhin ohne positive Kenntnis von den strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers – an der Haftungsinanspruchnahme fest und erhöhte den Gesamthaftungsbetrag um die weitere Umsatzsteuer für 2017 in Höhe von xxxy € auf yyxx €.

Der Kläger sei für die Abgabe der Umsatzsteuererklärung 2017, der Umsatzsteuervoranmeldungen für das dritte und vierte Quartal 2018 und auch für das erste Quartal 2019 verantwortlich gewesen. Dem sei er nicht nachgekommen, sodass die entsprechenden Steuern erst später festgesetzt und nicht beigetrieben werden konnten.

Zwar liege eine Gewerbeabmeldung zum 31.10.2018 vor. Es sei allerdings auch danach noch von Umsätzen auszugehen. Da der Kläger hierzu keine Angaben gemacht habe, seien weitere Umsatzsteuervoranmeldungen geschätzt worden, und zwar bis zum 19.02.2019, dem Tag des Insolvenzeröffnungsverfahrens (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes betreffend die Gesellschaft mit beschränkter Haftung [GmbHG]). Nach Anhörung des Klägers sei die Haftungsschuld daher entsprechend den durch die Betriebsprüfung getroffenen Feststellungen um xxxy € zu erhöhen; die Umsatzsteuer für 2017 sei mit Bescheid vom 13.08.2019 geändert worden.

An der Ermittlung einer Haftungsquote habe der Kläger entgegen seiner Verpflichtung nicht mitgewirkt und auch der hierzu angefragte „Insolvenzverwalter“ habe keine Angaben gemacht.

Die Haftungsinanspruchnahme sei ermessensgerecht; andere Haftungsschuldner seien nicht ersichtlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen (Bl. 17 ff. der Gerichtsakte).

Unter dem 29.05.2020 erstattete der vom Amtsgericht N-Stadt – Insolvenzgericht – bestellte Gutachter, Rechtsanwalt G. von C. ( Kanzlei C.) das Insolvenzgutachten, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Darin ist u.a. festgehalten: Der Steuerberater der GmbH, Herr X., habe den Jahresabschluss 2015 und die Summen- und Saldenlisten für den Zeitraum von 2016 bis September 2018 vorgelegt und mitgeteilt, dass weitergehende Auskünfte nicht erteilt werden könnten. Nachdem der Kläger (des hiesigen Verfahrens) zunächst zur Mitwirkung nicht bereit gewesen sei und daher Zwangsmaßnahmen ergriffen worden seien, habe dieser ihm, dem Gutachter, zwei Kartons mit Unterlagen übergeben. Die Erkenntnisgewinnung sei allerdings schwierig gewesen, und zwar sowohl in Bezug auf den Kläger als auch das Steuerbüro X. sowie – aufgrund der Betriebsprüfung und eines Steuerstrafverfahrens – auch beim Beklagten.

Durch rechtskräftigen Beschluss vom 10.08.2020 Y IN x/19 lehnte das Amtsgericht B-Stadt (wie auch später im Verfahren Y IN y/19) die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH mangels Masse ab; die GmbH wurde sodann von Amts wegen im Handelsregister gelöscht (s. Handelsregistereintrag vom xx.11.2020).

Gegen die „Einspruchsentscheidung: xxx/xxx/xxxx Rb-Nr. 1 RBBZ 5“ hat der Kläger Klage erhoben.

Der Kläger begründet seine Klage in der Sache insbesondere damit, dass die Geschäfte der GmbH tatsächlich nicht von ihm, sondern von einem faktischen Geschäftsführer, Herrn S. T.-M., geführt worden seien. Dieser sei der Stiefsohn des Allein-Gesellschafters K. T.-M.. Er, der Kläger, selbst sei nur im Rahmeneines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses für ein Entgelt von monatlich 250 € bei der GmbH angestellt gewesen, um Erklärungen zu unterschreiben. Er sei dem faktischen Geschäftsführer „hörig“ gewesen. Wegen der Einzelheiten seiner Tätigkeit für die GmbH und seines Verhältnisses zu Herrn S. T.-M. verweist der Kläger auch auf seine schriftliche zeugenschaftliche Einlassung gegenüber der Staatsanwaltschaft B-Stadt vom 30.07.2021 (Bl. 142 ff. der Gerichtsakte), in der er im Einzelnen darlegt, dass und unter welchen Umständen er in der GmbH (wie auch in der J2 GmbH) lediglich als Strohmann eingesetzt und alleiniger tatsächlicher Geschäftsführer Herr S. T.-M. gewesen sei. Auf die Einlassung wird Bezug genommen.

Die Gewerbeabmeldung der GmbH sei erfolgt, ohne dass er, der Kläger, noch zum Geschäftsführer bestellt gewesen sei. Er sei im September 2018 als Geschäftsführer abberufen worden. Zur Stellung des Insolvenzantrages sowie zur Formulierung der eidesstattlichen Versicherung gibt der Kläger an, dass der faktische Geschäftsführer, Herr S. T.-M., nach einer entsprechenden Abstimmung mit einem von diesem beauftragten Rechtsanwalt einen Antragsinhalt vorgegeben habe.

Der Kläger beanstandet die Schätzung der Umsatzsteuer 2017 durch die Betriebsprüfung; wegen der Einzelheiten wird auf den Vortrag Bezug genommen. In diesem Zusammenhang führt er aus, dass allein Herr S. T.-M. die Kasse geführt, Einstellungen und Entlassungen von Mitarbeitern vorgenommen und sämtliche kaufmännischen Belange kontrolliert habe. Er, der Kläger, selbst habe auch niemals Geräte geleert. All dies ergebe sich auch aus der Anzeige des Beklagten vom 10.01.2019 in Bezug auf die J2 GmbH.

Wenn ihm eine Verletzung seiner Mitwirkungspflicht bei der Ermittlung der Haftungsquote vorgeworfen werde, bestreite er das. Er habe auf das Insolvenzverfahren verwiesen. Darüber hinaus habe der Beklagte auch nicht berücksichtigt, dass ihm die Mitwirkung aufgrund der kriminellen Handlungen des faktischen Geschäftsführers S. T.-M. unmöglich gewesen sei. Er, der Kläger, bestreite, dass das Steuerbüro X., das über die Buchführungsunterlagen verfügt habe, ihn überhaupt gekannt habe. Die Steuerberatung habe ausschließlich über den faktischen Geschäftsführer, Herrn S. T.-M., kommuniziert. Er habe in der Vergangenheit versucht, von dem faktischen Geschäftsführer der GmbH entsprechende, von der Finanzverwaltung und der „Insolvenzverwaltung“ angeforderte Unterlagen, insbesondere hinsichtlich der Abschlüsse der Jahre 2015 und 2016 sowie der Umsätze bis zur Einstellung der Tätigkeit im 3. Quartal 2018 zu erhalten. Hierzu habe er sowohl mit der ehemaligen Steuerberaterin, Frau D., als auch mit dem Steuerbüro X. vergeblich Kontakt aufgenommen. Er sei dort als Geschäftsführer aber nicht hinreichend bekannt gewesen.

Wegen der weiteren Beanstandungen der Haftungsinanspruchnahme wird auf den den Beteiligten zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung übersandten vorläufigen Sachbericht des Berichterstatters vom 12.12.2022 und die Schriftsätze des Klägers Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

den Haftungsbescheid vom 12.06.2019, zuletzt in der Fassung vom 29.04.2022, sowie die Einspruchsentscheidung vom 20.03.2020 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

              die Klage abzuweisen

hilfsweise die Revision zuzulassen.

Soweit der Senat in der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe angenommen habe, dass ein Fehler im Auswahlermessen darin zu sehen sein könnte, dass neben dem Kläger bzw. anstelle des Klägers ein faktischer Geschäftsführer, Herr S. T.-M., agiert habe, sei dies dem Beklagten zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Einspruch, am 20.03.2020, noch nicht bekannt gewesen und habe sich dem Beklagten nach Aktenlage auch nicht aufdrängen müssen. Der Erlass des Haftungsbescheides vom 29.04.2022 stelle insoweit lediglich eine Teilrücknahme dar. Die maßgebenden tatsächlichen Anhaltspunkte hätten sich erst später aufgrund eines Schreibens der Geschäftsführerin im Verwaltungsverfahren des Parallelverfahrens 4 K 1241/20 ergeben und diese hätten dann auch zur Inanspruchnahme des faktischen Geschäftsführers geführt. Aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ergebe sich, dass ein Ermessensfehler nicht anzunehmen sei, wenn der Behörde hinsichtlich der Unkenntnis kein Verschulden vorzuwerfen sei. Er verweist hierzu auf die BFH-Urteile vom 20.09.2016 X R 36/15 (BFH/NV 2017, 593), vom 14.12.2021 VII R 14/19 (BFH/NV 2022, 401) und vom 26.06.2014 IV R 17/14 (BFH/NV 2014, 1507). Der Beklagte habe nach Kenntniserlangung den faktischen Geschäftsführer ebenfalls in Haftung genommen und den Kläger sodann darauf hingewiesen, dass er neben diesem in Höhe von yxyx € als Gesamtschuldner haftet. Der Beklagte geht ferner davon aus, dass es auswahlermessenswidrig gewesen wäre, den Kläger unter den tatsächlich obwaltenden Umständen nicht in Anspruch zu nehmen.

In Ansehung der strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers sei zwar einzuräumen, dass dieser sein Amt kraft Gesetzes (§ 6 Abs. 2 GmbHG) verloren habe. Nach seiner Ansicht sei allerdings die – bisher höchstrichterlich ungeklärte – Frage zu bejahen, ob der Rechtsschein des Handelsregisters (positive Publizität) ausreiche, um den Kläger weiterhin als Geschäftsführer gem. § 34 AO anzusehen. Immerhin verweise auch die zivilgerichtliche Rechtsprechung auf die Rechtsschein-Wirkung und die Geschäftsfähigkeit für die vertretene Gesellschaft. Der BFH halte die Handelsregister-Eintragung des Geschäftsführers nicht für erforderlich. Es erscheine zudem wertungswidersprüchlich, dass zwar ein „Strohmann“ als formeller Geschäftsführer die Pflicht habe, sein Amt niederzulegen, jemand der bewusst den Anschein erwecke, weiterhin formeller Geschäftsführer zu sein, aber von der Haftung ausgenommen werden soll. Der Kläger selbst habe aus den Verurteilungen keinerlei Konsequenzen gezogen und auch die Strafgerichte hätten den Kläger nach der ersten Verurteilung weiterhin wegen Insolvenzverschleppung verurteilt; auch von daher erscheine eine Haftungsentlassung nicht folgerichtig. Der Kläger müsse aber auch als „Person im Sinne des § 35 AO“ angesehen werden, weil er – gestützt durch den Rechtsschein der Handelsregistereintragung – nach außen als Geschäftsführer der GmbH aufgetreten sei. Hieran ändere es nichts, dass er im Innenverhältnis dem „Zwang“ von Herrn S. T.-M. unterlegen habe. Dieser habe zwar zweifelsfrei im Hintergrund die Geschicke gelenkt, habe aber selbst keine verbindlichen Rechtsgeschäfte für die GmbH abschließen können. Dementsprechend werde auch im Schrifttum die Einschätzung vertreten, dass bereits der Anschein zur Führung der Geschäfte berechtigt zu sein, die Haftung begründe und dass es ausreiche, wenn der Haftungsschuldner auch nur mittelbar rechtlich und tatsächlich in der Lage sei, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters zu erfüllen. Der Kläger sei in dieser Lage gewesen, habe davon jedoch nur dann Gebrauch gemacht, wenn Herr S. T.-M. dies von ihm erwartet bzw. eingefordert habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags des Beklagten wird ergänzend auf den den Beteiligten zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung übersandten vorläufigen Sachbericht des Berichterstatters vom 12.12.2022 sowie auf dessen Schriftsätze Bezug genommen.

Der Beklagte hat den angefochtenen Haftungsbescheid unter dem 29.04.2022 gem.§ 130 AO abgeändert und die Haftungssumme auf insgesamt yxyx € herabgesetzt (vgl. Schreiben des Beklagten vom 22.03.2022 und vom 29.04.2022); wegen der verbliebenen einzelnen Haftungsgründe wird auf den Bescheid verwiesen. Die Beteiligten haben den Rechtsstreit daraufhin teilweise für erledigt erklärt und hinsichtlich der erledigten selbständigen Haftungsgründe ist der Rechtsstreit daraufhin mit Beschluss vom 03.06.2022 zur gesonderten Entscheidung über die Kosten des Verfahrens abgetrennt worden.

Der Senat hat dem Kläger mit Beschluss vom 17.08.2022 Prozesskostenhilfe gewährt. Auf den Beschluss wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.

Dem Senat haben ferner die vom Beklagten übermittelten Verwaltungsakten, einschließlich der Prüferhandakten, sowie die Akten des zwischenzeitlich abgeschlossenen Haftungsverfahrens 4 K 1241/20 (betreffend die Geschäftsführung der J2 GmbH) vorgelegen.

Ferner hat der Beklagte die für Herrn S. T.-M. geführte Haftungsakte übermittelt. Hieraus ist zu entnehmen, dass der Beklagte während des hiesigen Klageverfahrens – im Ausgangspunkt veranlasst durch eine schriftliche Einlassung der Geschäftsführerin der Schwestergesellschaft J2 GmbH vom 27.11.2020 – Herrn S. T.-M. anschließend an Anhörungsschreiben u.a. vom 10.12.2020 mit Bescheid vom 21.07.2021 aufgrund von § 69 AO in Haftung genommen hat, und zwar über zyxzy €, darunter auch hier streitgegenständliche Rückstände. In dem Bescheid führt der Beklagte zum Sachverhalt u.a. aus, dass Herr S. T.-M. seit der Gründung der GmbH der faktische Geschäftsführer gewesen sei, weil er tatsächlich alle maßgeblichen Entscheidungen getroffen und die Geschicke des Unternehmens geleitet habe. Er habe die Geschäftsführung hinsichtlich der Bestimmung der Unternehmenspolitik und der Unternehmensorganisation übernommen, Einstellungen und Entlassungen der Mitarbeiter vorgenommen sowie die Höhe der Gehälter bestimmt und allein die Verhandlungen mit anderen Vertragspartnern und Kreditgebern geführt. Ferner habe ihm die Verantwortlichkeit hinsichtlich der Steuerung der Buchhaltung, insbesondere die Leerung der Geldspielgeräte, Auslesung der Einnahmen sowie die Entscheidungen in Steuerangelegenheiten oblegen. Herr S. T.-M. focht den Bescheid mit einem – nach dem Kenntnisstand des Gerichts – derzeit noch anhängigen Einspruch an, mit dem er u.a. bestritt, faktischer Geschäftsführer zu sein (Schreiben vom 18.05.2021).

Der Senat hat die Akten des Finanzamts für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung Hagen xxxx-2019-xxxx (zwischenzeitlich Amtsgericht Hagen xx Cs-xxx Js xx/20-xx/21) und yyyy-D-2021-yyyy sowie die Akten des Amtsgerichts B-Stadt xx Cs-xxx Js y/21 - yy/21 beigezogen. Hieraus ist u.a. zu entnehmen, dass gegenüber Herrn S. T.-M. durch Strafbefehl des Amtsgerichts B-Stadt vom 23.08.2021 xx Cs-xxx Js y/21 - yy/21 wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung eine Geldstrafe festgesetzt wurde und er seinen hiergegen eingelegten Einspruch auf die Rechtsfolgen beschränkt hat (Bl. 194 der Strafakte); in dem Strafbefehl ist festgestellt, dass er faktisch die Geschäfte der GmbH geführt hat und der Kläger von ihm als „Strohmann“ eingesetzt worden war (Bl. 133 f. der Strafakte). Ferner hat Herr S. T.-M. ausweislich des Protokolls einer Beschuldigtenvernehmung im Ermittlungsverfahren yyyy-D-2021-yyyy unter dem 01.06.2022 erklärt, dass er den Tatvorwurf der faktischen Geschäftsführung „beider GmbHs“ [i.e. J1 GmbH und der J2 GmbH] vollumfänglich einräume (Bl. 133 der Ermittlungsakte).

Auf Anforderung des Berichterstatters hat die Staatsanwaltschaft B-Stadt ferner mit Schreiben vom 02.11.2022 eine Kopie des Strafbefehls vom 10.10.2016 X Cs xxx Js x/x (xx/xx) sowie des Strafurteils vom 22.02.2018 X Cs-yyy Js x/y-yy/y des Amtsgerichts N-Stadt vorgelegt.

Der Senat hat in der Sache am 19.12.2022 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.

Aus den Gründen

Die Klage ist begründet.

1.              Der Senat geht zugunsten des Klägers davon aus, dass eine Klageerweiterung (um Lohnsteuerhaftung pp.) mit dem Schriftsatz vom 29.05.2020 nicht beabsichtigt war und infolgedessen lediglich der Haftungsbescheid vom 12.06.2019 in Gestalt der von der ursprünglichen, fristwahrenden Klageschrift allein in Bezug genommenen Einspruchsentscheidung vom 20.03.2020 bzw. der nunmehrigen Teilabhilfe im Bescheid vom 29.04.2022 streitgegenständlich ist.

2.              Die so verstandene Klage ist begründet.

Die streitgegenständliche Haftungsinanspruchnahme, zuletzt in der Fassung des Bescheides vom 29.04.2022, verletzt die Rechte des Klägers (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Sie ist schon deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil die vom Beklagten getroffene Ermessensentscheidung keinen Bestand haben kann.

a)              Nach § 191 Abs. 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner).

Gem. § 69 AO haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. Die Haftung umfasst auch die infolge der Pflichtverletzung zu zahlenden Säumniszuschläge.

Die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners ist zweigliedrig zu prüfen (statt vieler BFH-Urteil vom 11.03.2004 VII R 52/02, BStBl II 2004, 579). Die Prüfung, ob in der Person oder den Personen, die es heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind, ist eine vom Gericht in vollem Umfang überprüfbare Rechtsentscheidung (erste Stufe). Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Beklagten an, ob und wen es als Haftenden in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 FGO auf Ermessensfehler überprüfbar. Nach § 102 Satz 1 FGO ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob der Beklagte den für die Ermessensausübung maßgeblichen Sachverhalt vollständig ermittelt hat und ob eine Ermessensüber- oder ‑unterschreitung oder ein Ermessensfehlgebrauch vorliegen (z.B. BFH-Urteil vom 26.06.2014 IV R 17/14, BFH/NV 2014, 1507).

Diese höchstrichterliche Rechtsprechung hat für die gerichtliche Überprüfung von Haftungsbescheiden zur Folge, dass hinsichtlich der sog. ersten Stufe – abgesehen vom Eingreifen einer etwaigen Präklusion (z.B. nach § 79b Abs. 3 FGO) – derjenige Sach- und Streitstand zugrunde zu legen ist, wie er sich am Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht darstellt (BFH-Urteil vom 20.09.2016 X R 36/15, BFH/NV 2017, 593). Demgegenüber kommt es bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung auf der sog. zweiten Stufe auf die tatsächliche und rechtliche Situation im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung an (BFH-Urteil vom 20.09.2016 X R 36/15, BFH/NV 2017, 593).

b)              Der Senat lässt offen, ob der Kläger im Streitfall überhaupt die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 69 AO erfüllt hat, obwohl er seit dem 05.11.2016 kein gesetzlicher Vertreter der GmbH im Sinne des § 34 AO mehr war und der Beklagte auch nicht im Einzelnen dargelegt hat, aufgrund welcher konkreten Handlungen der Kläger – im Haftungszeitraum (bis zum 31.10.2018) und unbeschadet der offenkundigen tatsächlichen Abhängigkeit von Herrn S. T.-M.– als „Person im Sinne des § 35 AO“ (als faktischer oder als Rechtsschein-Geschäftsführer) anzusehen ist. Denn die Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 69 AO ergibt auf der Grundlage des insoweit maßgebenden Erkenntnisstandes in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, dass die vom Beklagten in der Verwaltungsentscheidung getroffene Ermessensentscheidung im Streitfall keinen Bestand haben kann. Denn der Beklagte hat bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt, dass der Kläger nicht als gesetzlicher Vertreter im Sinne des § 34 AO in Anspruch genommen werden konnte und dass der Kläger lediglich als „Strohmann“ eingeplant und tätig geworden war, während daneben ein faktischer Geschäftsführer existierte.

aa)              Zwar werden Ermessensentscheidungen vielfach – insbesondere, aber nicht nur in Erlassverfahren – trotz (objektiv) unvollständiger Sachverhaltsgrundlage schon dann nicht beanstandet, wenn dem Beklagten in Bezug auf den seiner Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt keine Ermittlungspflichtverletzung vorzuwerfen ist (vgl. zu dieser Rechtsprechung BFH-Urteile vom 26.10.2011 VII R 50/10, BFH/NV 2012, 552, vom 23.11.2000 III R 52/98, BFH/NV 2001, 882, vom 30.10.1990 VII R 106/87, BFH/NV 1991, 509; vom 11.06.1997 X R 14/95, BFHE 183, 21, BStBl II 1997, 642; Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.01.2019 4 K 4233/16, juris.de; Finanzgericht Nürnberg, Urteil vom 06.03.2013 3 K 1469/11, juris.de; Finanzgericht München, Urteil vom 26.07.2012 14 K 526/12, juris.de; Finanzgericht München, Urteil vom 26.11.2010 8 K 2796/08, EFG 2011, 1953; Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 25.06.2008 12 K 407/04, EFG 2008, 1434; Finanzgericht Hamburg, Beschluss vom 08.01.2002 II 420/01, juris.de; Finanzgericht München, Urteil vom 19.04.1994 7 K 2598/90, juris.de; wohl auch: Finanzgericht Köln, Urteil vom 26.06.2008 2 K 4826/07, EFG 2009, 291). Entsprechende Erwägungen liegen, wie der Senat nicht verkennt, auch den vom Beklagten angeführten Entscheidungen des BFH, Urteile vom 26.06.2014 IV R 17/14, BFH/NV 2014, 1507, vom 20.09.2016 X R 36/15, BFH/NV 2017, 593, und vom 14.12.2021 VII R 14/19, BFH/NV 2022, 401, zugrunde.

Indessen geht der BFH ferner davon aus, dass das Finanzgericht nicht auf die Prüfung der Feststellungen der Verwaltungsbehörden beschränkt ist, sondern den Sachverhalt, der sich für den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung ergibt, selbständig nach den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen festzustellen hat (BFH-Urteil vom 31.03.1976 I R 51/74, BFHE 118, 537, BStBl II 1976, 499; Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 05.02.2004 11 K 47/03, juris.de), und zwar zum Zwecke der Prüfung der Ermessensentscheidung – auch, aber nicht nur wegen einer möglichen Ermessensreduzierung – auch durch über die behördlichen Feststellungen hinausgehende Ermittlungen (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 102 FGO, Rz. 5). Indem die Finanzgerichte dieses Recht der Tatsachenfeststellung in Anspruch nehmen, üben sie auch keine Ermessenskontrolle aus, die ihnen nach der Vorschrift des § 102 FGO nicht zusteht. Denn erst aufgrund entsprechender Feststellungen ist das Finanzgericht in der Lage zu entscheiden, ob das Recht des Steuerpflichtigen auf rechtsfehlerfreien Ermessensgebrauch verletzt ist (BFH-Urteil vom 31.03.1976 I R 51/74, BFHE 118, 537, BStBl II 1976, 499; Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 05.02.2004 11 K 47/03, juris.de). Infolgedessen geht der BFH ausdrücklich auch zur Klärung der Frage, ob dem Grunde nach ein Auswahlermessen besteht, weil neben dem in Haftung genommenen Steuerpflichtigen ein weiterer Haftungsschuldner in Betracht kommt, davon aus, dass es entsprechender Feststellungen bedarf. Insoweit sind gemäß § 76 FGO Feststellungen zu der Frage zu treffen, ob Anlass zur Begründung eines Auswahlermessens durch den Beklagten bestanden hätte bzw. den Ermessensrahmen festzustellen (BFH-Urteile vom 29.05.1990 VII R 81/89, BFH/NV 1991, 283; vom 16.07.1992 VII R 60/91, BFH/NV 1993, 153; vom 29.01.1985 VII R 67/81, BFH/NV 1986, 256). Diesbezüglich kommt es nicht wie bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung auf die Umstände an, wie sie sich im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung dargestellt haben, sondern es kommt auf die Sachlage an, wie sie im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung festgestellt wird (BFH-Urteil vom 16.07.1992 VII R 60/91, BFH/NV 1993, 153).

Unbeschadet dieser nicht ganz friktionsfreien Rechtsprechungslinien wird allerdings nach der Rechtsprechung des BFH einem angefochtenen Verwaltungsakt – ausnahmsweise – der Boden entzogen, wenn das Klageverfahren im Rahmen der ersten Prüfungsstufe, des Haftungstatbestandes, aufgrund neu hinzugekommener tatsächlicher Feststellungen oder aufgrund einer von der Rechtsauffassung des Beklagten abweichenden Beurteilung der Voraussetzungen der jeweiligen Haftungsnorm zu anderen Grundlagen der Ermessensentscheidung führt und diese tatsächlichen oder rechtlichen Erkenntnisse eine dem Steuerpflichtigen günstigere Ermessensentscheidung ermöglichen. Dies gilt selbst dann, wenn der in Anspruch Genommene seinen Mitwirkungspflichten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht nachgekommen ist (BFH-Urteile vom 20.09.2016 X R 36/15, BFH/NV 2017, 593, vom 29.01.1985 VII R 67/81, BFH/NV 1986, 256; BFH-Beschlüsse vom 05.03.1985 VII B 45/84, BFH/NV 1987, 461, VII B 78/84, BFH/NV 1987, 462, VII B 52/84, BFH/NV 1987, 459; BFH-Urteil vom 13.04.1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508; ebenso: Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler: AO/FGO, § 102 FGO, Rn. 88; wohl auch: BFH-Urteile vom 22.05.2001 VII R 79/00, BFH/NV 2001, 1369; vom 12.12.1996 VII R 53/96, BFH/NV 1997, 386; Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 05.02.2004 11 K 47/03, juris.de).

Dieser Rechtsprechung schließt sich der Senat an. Er erkennt insbesondere keine rechtliche Grundlage dafür, dass der der Behörde gesetzlich eingeräumte Befugnis zur Ermessensausübung bzw. der eingeschränkten gerichtliche Kontrolle (§ 102 FGO) zugleich eine rechtsschutzverkürzende materielle Präklusionswirkung zukommt; der Rechtsschutz hinge weithin u.a. auch davon ab, über welche (Steuer-)Rechtskenntnisse der Steuerpflichtige verfügt, um zu erkennen, welcher Sachvortrag noch erheblich sein könnte. Angesichts dessen lässt der Umstand, dass bei nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen ein Antrag auf Aufhebung des Haftungsbescheides gestellt werden könne, auf die hier zu treffende Entscheidung keinen tragfähigen Rückschluss zu. Im Übrigen dürfte ein Widerruf des – unter dieser Prämisse – als rechtmäßig anzusehenden Haftungsbescheides regelmäßig schon unter Verweis auf dessen Bestandskraft sowie die (vergebene) Möglichkeit, im Haftungsverfahren entsprechende Einwände vorzubringen, ermessensfehlerfrei abgelehnt werden können.

Dieser rechtlichen Grundlegung lässt sich auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass für das Finanzamt in derartigen Konstellationen eine rechtmäßige Ermessensausübung nicht möglich sei. Denn in Ansehung des Umstandes, dass die Finanzbehörde die Ermessensausübung auf Grundlage des vervollständigten Sachverhalts – sei es während des laufenden Klageverfahrens (vgl. dazu BFH-Urteil vom 05.10.2004 VII R 18/03, BFHE 208, 292, BStBl II 2005, 323 und VII R 77/03, BFHE 207, 504, BStBl II 2005, 122; BFH-Urteil vom 16.12.2008 I R 29/08, BFHE 224, 195, BStBl II 2009, 539), sei es nach gerichtlicher Kassationsentscheidung (vgl. BFH-Urteil vom 23.03.1993 VII R 38/92, BFHE 171, 10, BStBl II 1993, 581) – nachholen kann, beschränkt sich dieses Risiko auf ein Prozesskostenrisiko, das die Behörde auch in anderen Zusammenhängen bei nachträglichen Änderungen zu tragen hat und das zudem im Einzelfall unter dem Vorbehalt der Anwendung des § 137 FGO steht.

bb)              Nach diesen Maßgaben ist im Streitfall festzustellen, dass dem Haftungsbescheid bzw. der darin getroffenen Ermessensentscheidung aufgrund der im Klageverfahren hinzugewonnenen Erkenntnisse der Boden entzogen worden ist. Die tatsächlichen Grundlagen für die Ermessensentscheidung haben sich im Streitfall im Rahmen der Prüfung des Haftungstatbestandes in zweifacher Hinsicht erheblich geändert.

aaa)              Zum einen hat die tatbestandliche Prüfung der Haftungsinanspruchnahme in Ansehung des § 34 Abs. 1 Satz 1 AO ergeben, dass der Kläger im hier in Rede stehenden vom Beklagten zugrunde gelegten Haftungszeitraum nicht mehr organschaftlicher Geschäftsführer der GmbH, mithin deren gesetzlicher Vertreter, war. Der Kläger hatte dieses Amt als Geschäftsführer bereits am 05.11.2016 verloren.

(1)              Es sind mit dem Begriff „gesetzliche Vertreter juristischer Personen“ die Vertreter nach bürgerlichem Recht gemeint (vgl. Nacke in: Nacke, Die Haftung für Steuerschulden, Haftung für Pflichtverletzungen während der Betriebsführung, Rn. 2_10). Maßgebend ist für die GmbH daher § 35 Abs. 1 GmbHG. Die dort geregelte Geschäftsführereigenschaft und damit auch die Stellung als gesetzlicher Vertreter einer GmbH setzt eine wirksame und andauernde Bestellung voraus. Endet die Geschäftsführereigenschaft, endet auch die Stellung als gesetzlicher Vertreter (vgl. BFH-Urteil vom 27.10.1987 VII R 12/84, BFH/NV 1988, 485 [zum Widerruf der Bestellung und zur Amtsniederlegung]). Der faktische Geschäftsführer ist kein Fall von § 34 AO (ebenso Jatzke in: Gosch, AO/FGO, § 34 AO, Rz. 10).

Die Bestellung eines zunächst wirksam bestellten Geschäftsführers – wie dem Kläger – verliert ihre Wirkung (Wegfall der organschaftlichen Vertretungsmacht), sobald dieser nach § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 GmbHG (i.d.F. vom 23.10.2008) verurteilt wird; das Amt des Geschäftsführers endet kraft Gesetzes von selbst (vgl. Bundesgerichtshof [BGH], Beschluss vom 03.12.2019 II ZB 18/19, juris.de; Oberlandesgericht [OLG] München, Beschluss vom 03.03.2011 31 Wx 51/11, juris.de, s. auch Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, § 6 GmbHG, Rz. 12; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in: Scholz, GmbHG, § 6 GmbHG, Rz. 31; zu § 6 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auch BGH-Urteil vom 01.07.1991 II ZR 292/90, BGHZ 115, 78).

Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 GmbHG kann Geschäftsführer nicht sein, wer wegen einer oder mehrerer vorsätzlich begangener Straftaten, darunter (Buchst. a) das Unterlassen der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Insolvenzverschleppung), verurteilt worden ist; dieser Ausschluss gilt für die Dauer von fünf Jahren seit der Rechtskraft des Urteils. Die Insolvenzverschleppung kann nach Maßgabe von § 15a Abs. 4 InsO in mehreren Modalitäten begangen werden, nämlich indem ein Eröffnungsantrag (1.) nicht oder nicht rechtzeitig oder (2.) nicht richtig gestellt wird. Die von § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 Buchst. a GmbHG (jedenfalls) erfasste „Unterlassung“ der Antragstellung umfasst dabei nach ihrem Wortlaut auch die verspätete Stellung eines Insolvenzantrags (OLG Celle, Beschluss vom 29.08.2013 9 W 109/13; ebenso Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 6 GmbHG, Rz. 31; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, § 6 GmbHG, Rz. 23; Goette in MüKo § 6 GmbHG, Rz. 33); auch die Gesetzesbegründung lässt insoweit keine Einschränkung erkennen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/6140, S. 32).

§ 6 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 Buchst. a GmbHG knüpft den Ausschluss vom Amt des Geschäftsführers einer GmbH – anders als z.B. Buchst. e – ohne Rücksicht auf die verhängte Rechtsfolge (Höhe der Strafe) allein an die mit dem rechtskräftigen Strafurteil festgestellte bewusste Missachtung der Insolvenzantragspflicht (vgl. OLG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 03.02.2017 5 Wx 2/17, juris.de). Unerheblich ist, ob die Verurteilung durch Strafbefehl erfolgte (§ 410 Abs. 3 StPO; vgl. BGH-Beschluss vom 03.12.2019 II ZB 18/19, juris.de).

(2)              Nach diesen gesetzlichen Vorgaben endete im Streitfall – wie zwischen den Beteiligten als solches auch nicht kontrovers ist – das Amt des Klägers als Geschäftsführer der GmbH und mithin dessen Stellung als gesetzlicher Vertreter der GmbH mit dem Eintritt der Rechtskraft der Verurteilung wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung – aufgrund der nicht (rechtzeitigen) Stellung eines Insolvenzantrags – im Strafbefehl des Amtsgerichts N-Stadt vom 10.10.2016 X Cs xxx Js x/x (xx/xx), ausweislich des Rechtskraftvermerks also am 05.11.2016. Danach erstreckte sich die Inhabilität des Klägers über den gesamten vom Beklagten zugrunde gelegten Haftungszeitraum.

Dies gilt – anders als der Beklagte offenbar annimmt – unbeschadet dessen, dass beim Wegfall des Amtes ggf. zivilrechtlich ein Gutglaubensschutz nach § 15 des Handelsgesetzbuches (HGB) oder allgemeine Rechtsscheingrundsätze eingreifen können (vgl. dazu Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 6 GmbHG, Rn. 12). Denn § 34 AO knüpft an die Stellung als gesetzlicher Vertreter. Die Figur des „faktischen Geschäftsführers“, der gerade kein gesetzlicher Vertreter ist, ist steuerlich kein Fall von § 34 AO, sondern von § 35 AO (vgl. nur BFH-Urteil vom 17.01.1989 VII R 88/86, BFH/NV 1990, 71). Im Übrigen geht der BFH davon aus, dass nach einer Amtsniederlegung eine Haftung des Geschäftsführers auch über die Regelung des § 15 HGB bis zur Eintragung der Beendigung der Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers im Handelsregister nicht mehr in Betracht kommt, da für die Haftung des gesetzlichen Vertreters nach § 69 AO der öffentliche Glaube des Handelsregisters zum Schutz des Geschäftsverkehrs ohne Bedeutung ist (vgl. BFH-Urteile vom 22.01.1985 VII R 112/81, BFHE 143, 203, BStBl II 1985, 562, Rn. 17; vom 17.01.1989 VII R 88/86, BFH/NV 1990, 71 und vom 27.10.1987 VII R 12/84, BFH/NV 1988, 485; s. auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 21.04.2008 4 CS 07.2718, juris.de). Nichts anderes gilt nach Einschätzung des Senats für den Amtsverlust von Gesetzes wegen bei eintretender Inhabilität, mit der im Übrigen auch eine konkludente Neubestellung als (Not‑)Geschäftsführer nicht vereinbar wäre.

Diese Einschätzung wird durch den vom Beklagten ins Feld geführten Beschluss des BFH vom 31.03.2000 VII B 187/99 (BFH/NV 2000, 1322) nicht infrage gestellt, weil es dort lediglich an der – gem. § 39 GmbHG deklaratorischen – Eintragung in das Handelsregister fehlte, nicht aber an den Wirksamkeitsvoraussetzungen des § 6 GmbHG. Dem Beschluss ist auch nicht zu entnehmen, dass die dort in Rede stehende Geschäftsführerin lediglich eine Strohfrau gewesen wäre. Der BFH hebt, im Gegenteil, gerade deren „faktische Geschäftsführung“ hervor.

Auch der Umstand, dass die Strafgerichte den Kläger in der Folgezeit weiterhin wegen Insolvenzverschleppung verurteilt haben, gibt keinen Anlass zu einer anderweitigen Einschätzung. Im Übrigen war diesen, soweit ersichtlich, wie der Finanzverwaltung zunächst nicht bekannt, dass der Kläger lediglich als Strohmann tätig war, sodass der bloße Wegfall der rechtlichen Stellung als Geschäftsführer für die Strafgerichte nicht erheblich gewesen ist (vgl. zur Strafbarkeit des faktischen Geschäftsführers z.B. BGH, Beschluss vom 23.01.2013 1 StR 459/12, wistra 2013, 272).

(3)              Eine diesen Umständen Rechnung tragende Ermessensergänzung im Sinne des § 102 Satz 2 FGO ist nicht erfolgt. Sie würde indessen auch deshalb ausscheiden, weil eine erstmalige Ermessensentscheidung nicht im Wege der Ergänzung erfolgen könnte.

bbb)              Zum anderen – und in seiner Auswirkung auf die Entscheidungserheblichkeit aus Sicht des Senats unabhängig davon – ist der Ermessensentscheidung auch deshalb der Boden entzogen, weil der Beklagte das objektiv bestehende Auswahlermessen nicht erkannt hat.

(1)              Die tatbestandliche Prüfung des konkreten Verursachungsbeitrags (Pflichtverletzung) des Klägers sowie seines Verschuldens im Rahmen des § 69 AO haben ergeben, dass der Kläger nicht als aktiver Geschäftsführer tätig geworden ist (und werden konnte), sondern –  wie nach Lage der Akten nicht mehr kontrovers ist – lediglich als (vermeintlicher) Strohmann. Insofern wäre richtigerweise von einem Übernahmeverschulden auszugehen, weil der Kläger nach dem Erkenntnisstand des Gerichts von der tatsächlichen Geschäftsführung durch den faktischen Geschäftsführer, Herrn S. T.-M., ausgeschlossen war.

Mit dieser tatbestandlichen Feststellung ist untrennbar auch die Erkenntnis verbunden, dass für eine Haftungsinanspruchnahme neben dem formellen (Strohmann‑)Geschäftsführer auch der „de facto“-Geschäftsführer in Betracht zu ziehen gewesen wäre. Dass Herr S. T.-M. die Voraussetzungen der faktischen Geschäftsführung als Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO erfüllte, weil er wirtschaftlich über Mittel der GmbH verfügen konnte und als Verfügungsberechtigter aufgetreten ist (vgl. BFH-Urteil vom 07.04.1992 VII R 104/90, BFH/NV 1993, 213), bedarf keiner vertieften Darlegung mehr. Dies entspricht den aktenkundigen Erkenntnissen der Stadt N-Stadt (Bl. 5 der Akte 5383-2021-00063654), den Schilderungen des Klägers zur faktischen Geschäftsführung sowie der nachträglich erfolgten Haftungsinanspruchnahme des faktischen Geschäftsführers, der diese Funktion in seiner geständigen Einlassung vom 01.06.2022 (Bl. 132 f. der Akte 5383-2021-00063654) zudem eingeräumt hat und einen Einspruch gegen einen dies feststellenden Strafbefehl des Amtsgerichts B-Stadt vom 23.08.2021 xx Cs-xxx Js y/21 - yy/21 auf die Rechtsfolge beschränkt hat.

Lediglich ergänzend weist der Senat in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei einer führungslosen GmbH unter (besonderen) Umständen nach der Rechtsprechung des BFH auch der Alleingesellschafter als Haftungsschuldner in Betracht kommen soll (vgl. BFH-Urteil vom 27.11.1990 VII R 20/89, BStBl II 1991, 284; Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 35 AO, Rz. 5).

(2)              Es kann im Streitfall auch nicht bereits von einer Ausübung des Auswahlermessens ausgegangen werden, weil der Beklagte im Ausgangsbescheid und in der Einspruchsentscheidung auf das Auswahlermessen zu sprechen gekommen ist. Denn in allen Bescheiden geht der Beklagte ausdrücklich davon aus, dass der Kläger alleiniger Haftungsschuldner ist. Ihm fehlte auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Auswahlentscheidung (vgl. dazu auch BFH-Urteil vom 11.03.2004 VII R 52/02, BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579).

Die erforderliche Auswahlentscheidung wird auch nicht etwa durch den Hinweis auf weitere potentielle Haftungsschuldner vorweggenommen, weil sich diese nicht auf den Einzelfall – hier insbesondere auf das konkrete Verhältnis zwischen dem nominellen und faktischen Geschäftsführer – bezog und beziehen konnte. Die zwischenzeitliche Änderung des Haftungsbescheides vom 29.04.2022 ändert an diesem Befund ebenfalls nichts. Die Entscheidung enthält schon dem Grunde nach keine neue Ermessensentscheidung. Vielmehr ist die Begründung der Ermessensentscheidung aus der Ausgangsentscheidung vom 12.06.2019 lediglich (wörtlich) wiederholt worden. Es kann daher offenbleiben, ob im Bescheid vom 29.04.2022 lediglich eine Teilrücknahme im Sinne des § 130 Abs. 1 AO und mithin ein lediglich die Regelungen des ersten Haftungsbescheids in eingeschränkter Höhe wiederholender Verwaltungsakt zu sehen war (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 08.02.2008 VII B 156/07, BFH/NV 2008, 967).

Es liegt schließlich auch in der an den Kläger übersandten Mitteilung des Beklagten, dass er den faktischen Geschäftsführer nunmehr ebenfalls in Anspruch genommen habe, keine Auswahlentscheidung. Es handelt sich lediglich um eine nachträgliche und informatorische Mitteilung, die für die Inanspruchnahme des Klägers keine (neuen) Erwägungen enthält.

(3)              Fehlt es danach gänzlich an einer Auswahlentscheidung kann der Haftungsbescheid auch nicht mit der Erwägung aufrechterhalten werden, der Beklagte habe klar zum Ausdruck gebracht, dass er den Kläger jedenfalls auch dann in Anspruch nehmen würde, wenn andere Haftungsschuldner existieren würden. Denn eine solche pauschale Auswahlentscheidung wäre ersichtlich ermessensfehlerhaft. Auch der Umstand, dass der Beklagte den faktischen Geschäftsführer Herrn S. T.-M. zwischenzeitlich ebenfalls in Haftung genommen hat, ändert am Ermessensausfall in den Verwaltungsentscheidungen gegenüber dem Kläger nichts. Eine Ermessensergänzung im Sinne des § 102 Satz 2 FGO ist im Streitfall ebenso wenig erfolgt und scheidet im Übrigen auch deshalb aus, weil eine (Auswahl-)Ermessensentscheidung nicht im Wege der Ergänzung vollständig nachgeholt werden könnte.

ccc)              Sowohl der Wegfall der Stellung des Klägers als gesetzlicher Vertreter als auch das zutage getretene Erfordernis ein Auswahlermessen auszuüben, entziehen der bisher getroffenen Ermessensentscheidung den Boden.

(1)              Für den Wegfall der Stellung als gesetzlicher Vertreter liegt das auf der Hand, weil sich sämtliche nachfolgenden Tatbestandsmerkmale, insbesondere der konkrete Verursachungs- und Verschuldensbeitrag, sowie auch die Ermessensentscheidung auf diesen Ausgangspunkt beziehen. Insofern geht die Ermessensausübung von einem anderen gesetzlichen Tatbestand und von einem signifikant anderen, unzutreffenden Sachverhalt aus. Schon deshalb kann die Entscheidung so keinen Bestand haben.

Aber selbst unterstellt der Kläger könnte nach § 35 AO als faktischer (Rechtsschein‑)Geschäftsführer in Anspruch genommen werden, so ist offenkundig, dass das Ermessen in Bezug auf diesen Sachverhalt erst noch ausgeübt werden müsste, und zwar schon deshalb, um im Rahmen des Entschließungsermessens zu prüfen, ob – ggf. auch nur ausnahmsweise – von einer Inhaftungnahme abgesehen werden kann. Dies gilt umso mehr als der Kläger unter den Umständen des Streitfalls jedenfalls nicht als der „typische“ faktische Geschäftsführer anzusehen wäre, der das Unternehmen de facto dominiert hat und dessen Inanspruchnahme infolgedessen ermessensrechtlich vorgeprägt sein könnte.

(2)              Es unterliegt aus Sicht des Senats aber darüber hinaus – und ungeachtet der Frage, ob überhaupt die tatbestandlichen Haftungsvoraussetzungen des § 35 AO vom Kläger erfüllt werden – auch keinem durchgreifenden Zweifel, dass die nach Erlass der Einspruchsentscheidung hinzugewonnenen Erkenntnisse zur faktischen Geschäftsführung in Bezug auf Herrn S. T.-M. es – schon für sich besehen, aber jedenfalls in der Zusammenschau mit dem Wegfall der Voraussetzungen von § 34 AO – im Sinne der eingangs dargestellten Rechtsprechung des BFH zumindest ermöglichen würden bzw. ermöglicht hätten, eine von der derzeitigen Entscheidung abweichende Auswahlentscheidung zu treffen. Dies gilt umso mehr, wenn man die umfassende tatsächliche Abhängigkeit des Klägers von Herrn T.-M. mit in die Betrachtung einbezieht, die den Kläger lediglich als „Marionette“ – faktisch ohne eigene Befugnisse – erscheinen lässt. Dabei ist es für die hier zu entscheidende Frage nicht erforderlich, dass es zwingend zu einer anderen Auswahlentscheidung kommt. Um nicht gleichsam durch die „Hintertür“ das gerichtliche Ermessen an die Stelle eines amtlichen Ermessens zu setzen, genügt es, dass bereits ein Absehen von einer Haftungsinanspruchnahme eines nominellen (Strohmann‑)Geschäftsführers neben einem faktischen (dominierenden) Geschäftsführer ein mögliches Ergebnis der Ausübung des Ermessens wäre. Das gilt umso mehr, wenn – wie hier aufgrund von § 6 GmbHG – sogar nur ein vermeintlich nomineller (Strohmann‑)Geschäftsführer in Rede steht.

Der Senat teilt im Übrigen die Einschätzung des Beklagten nicht, dass ein Absehen von der Haftungsinanspruchnahme eines Strohmanns unter allen Umständen als ermessensfehlerhafte Entscheidung anzusehen wäre und die Haftungsinanspruchnahme des Klägers mithin die einzig rechtmäßige Entscheidung wäre. Dies ergibt sich schon daraus, dass es nicht als fehlerhaft angesehen werden könnte, auch die konkreten in der Person des jeweiligen Strohmanns liegenden Umstände zu berücksichtigen und (ggf. auch nur ausnahmsweise) von einer Haftungsinanspruchnahme abzusehen. Auch das gilt erst recht, wenn unter den Umständen des Streitfalls aufgrund von § 6 GmbHG von einem „fehlgeschlagenen“ Strohmann auszugehen ist.

ddd)              Dass die insoweit maßgebenden Tatsachen nicht erst nachträglich eingetreten sind, sondern zum Zeitpunkt des Erlasses der letzten Verwaltungsentscheidung objektiv bereits vorlagen, bedarf keiner näheren Erläuterung. Die Besonderheit des Streitfalls liegt allein darin, dass das beklagte (Festsetzungs‑)Finanzamt im Verwaltungsverfahren – nach der dem Senat vorliegenden – Aktenlage noch keine diesbezügliche (positive) Kenntnis hatte. Hierauf kommt es indessen nach den eingangs dargelegten Rechtsgrundsätzen ebenso wenig an wie darauf, ob die Mitwirkungspflicht des Klägers eine Mitteilung dieser Umstände im Haftungsverfahren erfordert hätte.

3.              Die Kostenentscheidung ergeht nach § 135 Abs. 1 FGO. § 137 Satz 1 FGO konnte im Streitfall schon deshalb nicht angewendet werden, weil der Senat das Verhalten des im Vorverfahren nicht vertretenen Klägers nicht für schuldhaft hält. Ferner hat der Beklagte unbeschadet der Hinweise des Gerichts deutlich gemacht, dass ihn die neu gewonnenen Erkenntnisse nicht zu einer anderen Entscheidung veranlasste hätten.

Die Entscheidung über die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 FGO und über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 151 Abs. 3, 155 Satz 1 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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